Pfingsten 2022 – Predigt von Pfarrer Jürgen Rieger
Pfingsten – etwas zwischen frischem Spargel, persönlichem Aufbruch und berechtigter Vielfalt
„Alles, was Sie zu Pfingsten brauchen, sind Erdbeeren und frischen Spargel“. So konnte man mal vor einiger Zeit in einer Anzeige lesen. Mit Pfingsten wird in den wenigsten Fällen etwas Religiöses verbunden. Noch weniger als Weihnachten und Ostern ist es ein Fest, bei dem man weiß, was eigentlich gefeiert wird. Dabei ist es doch der Geburtstag der Kirche. Und das Geschenk für die Kirche ist der Heilige Geist. Nur ist der schwer greifbar. Wie könnte man ihn fassen?
Zwei Wirkungen sind es, die mit dem Kommen des Heiligen Geistes verbunden sind; zwei Wirkungen, die es an Pfingsten zu bedenken gilt, weil sie unser Leben als Christen prägen: zum einen die Harmonie, die Universalität, das Verständnis füreinander; und zum anderen der persönliche Aufbruch, das Geweckt- und Gestörtwerden jedes einzelnen. Beides gehört zu Pfingsten.
Die Pfingstgeschichte, wie sie uns die Apostelgeschichte berichtet, ist zwar einerseits voller Unruhe – Feuerzungen, Sturmesbraus, Getöse und Zungenreden prägen das Geschehen -, andererseits ist es aber eine Geschichte der Harmonie, die nicht auf Spaltung, sondern auf Verständigung zielt. Alle hören sich gegenseitig in ihrer Sprache Gottes große Taten verkünden. Der Geist ist nicht über die Menschen ausgegossen, um Trennungen zu manifestieren oder neu aufzubauen, sondern damit sich die Menschen verstehen und zusammenfinden. Besonders der Hinweis auf die verschiedenen Völker verweist auf die Universalität des Pfingstfestes. Pfingsten schließt niemanden aus und überwindet Grenzen.
Im Blick auf die immer größer werdende Weltkirche hat dies eine große Bedeutung. Zum einen können wir die verschiedenen Traditionen des Christseins als immense Bereicherung erfahren. Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, wie in anderen Ländern und Kulturen Gottesdienst gefeiert wird oder Gemeindeleben stattfindet. Man sollte sich häufiger solche Erlebnisse „gönnen“, denn das erweitert auch den eigenen Horizont hinsichtlich des Lebens als Christen hier vor Ort. Zugleich stellen sich neue Fragen: Muss immer überall alles gleich sein? Wie kann eine sinnvolle Inkulturation gelingen? Wie kann und darf in Indien, China oder Indonesien, in Nigeria oder Brasilien Christentum gelebt werden, in Ländern, die eine völlig andere kulturelle und religiöse Tradition haben als wir in Europa? Pfingsten lädt uns ein, eine größere Flexibilität hinsichtlich gelebten Christseins zuzulassen. Es muss nicht alles in Liturgie, Katechese und Kirchendisziplin genauso sein wie bei uns. Es darf sich hier in den einzelnen Ortskirchen eine berechtigte Vielfalt zeigen, ja, es muss Sie sogar geben, wenn wir dem Heiligen Geist in unserer Kirche Raum lassen. Die Harmonie besteht darin, dass am Ende alle Christen nichts anderes sprechen (sollten) als die Sprache der Liebe, in der Verkündigung der Großtaten Gottes, in Lobpreis und Anbetung.
Dennoch gibt es auch noch eine andere Seite von Pfingsten. Sie zeigt sich in der Pfingsterzählung daran, dass alle „ganz bestürzt“ und „fassungslos vor Staunen“ (Apg 2, 6-7) waren. Wenn wir den Heiligen Geist in unser Leben hineinlassen, ist er nämlich nicht immer der große Versöhner (wenn er auch im letzten Trost spenden will), sondern kann auch ein sehr heilsamer und notwendiger „Störenfried“ sein. Wir haben Beispiele dafür im Evangelium:
Maria erschrak bei der Anrede des Engels, der ihr den Heiligen Geist verhieß. Ebenso erschrocken sind die Menschen, die an Pfingsten in Jerusalem dabei waren.
Ja, auch das gehört zu Pfingsten: die Bereitschaft, dass ich mich bestürzen lasse; dass ich mich ganz persönlich vom Heiligen Geist anrühren und bewegen lasse; dass ich bereit bin, die Verkrustungen in meinem Inneren aufbrechen zu lassen. Die persönliche Veränderung, die Aufforderung, sein Leben als ein Leben im Geist zu verstehen (und, dementsprechend auch mit seinen Charismen umzugehen), ist der eigentliche Auftrag des Pfingstfestes.
Mit dem Pfingstfest begann in der Apostelgeschichte die Ausbreitung der Kirche bis an die Enden der Erde, und das war nur möglich durch geisterfüllte Menschen, welche die Freude und die Kraft von oben in ihr Leben einließen. Pfingsten atmet den Geist des Aufbruchs und des Neuanfangs. Wie wichtig ist das auch heute!
Jesus spricht einmal von der Sünde gegen den Heiligen Geist, die nicht vergeben werden könnte. Häufiger wurde ich schon gefragt, was das bedeutet. Ich glaube, er meint damit nicht ein konkretes Vergehen, sondern eine grundsätzlich falsche Lebenseinstellung, welche die Wurzel aller Sünde ist, nämlich, dass man sich dem Heiligen Geist gegenüber verschließt, dass man die „Schotten dichtmacht“, die Fenster der Seele schließt und so Gott nicht mehr an sich herankommen lässt. Man gibt Gott sozusagen nicht einmal mehr die Chance, etwas zu verändern. Deswegen ist die Sünde gegen den Heiligen Geist die schlimmste: Wer sich verschließt, der spürt weder etwas von der Gnade noch von der Vergebung Gottes.
So ist das Wichtigste an Pfingsten tatsächlich nicht Erdbeeren und frischer Spargel, sondern die Offenheit und Bereitschaft, sich von Gott berühren zu lassen. Mit Pfingsten beginnt unser Auftrag, das Angesicht der Erde und der Kirche zu erneuern. Und das Schöne dabei ist: Wir müssen es nicht allein tun. Der Beistand von oben, der Heilige Geist ist uns mitgegeben – auch in den Menschen, mit denen wir zusammen heute Kirche sind und gestalten.